Verloren im Jetzt

by Jochen Schliemann
Visions (issue 104)

Warum mag ich BUSH? Eine Frage, die ich mir bis vor einer Stunde gestellt habe. Bisher konnten weder die tolle neue Platte “Golden State” noch das aus gegebenem Anlass geführte Interview mit Gavin Rossdale Licht ins Dunkel bringen. Erst während ich diesen Artikel schrieb, sollte ich dahinter kommen.

Es begann im September 1999. Ich weiß noch genau, wie ich etwa eine Stunde nach meinem Interview mit dem angeblich so schwierigen Gavin Rossdale zum dritten Bush-Epos “The Science Of Things” durch New York City schlenderte und den Mann in einem Café sitzen sah. Er trank Rotwein, am hellichten Tag, winkte mich zu sich hin und fragte über den Zaun, was ich mir denn gekauft hätte. Ein T-Shirt. Mehr nicht. Dann beugte er sich über das Geländer: “Wir haben vorhin so viel über `Letting The Cables Sleep` geredet. Es ist schön, dass du den Song magst, aber findest du die anderen nicht auch cool?” – “Klar”, stammelte ich verdutzt und ging mit seinen besten Wünschen meines Weges. Man mag es mir verzeihen – ich war schließlich aufgeregt – aber ich habe damals gelogen. “Cables” war mit Abstand der beste Song auf dieser Platte. Gut, “Warm Machine”, “English Fire” und “Mindchanger” noch, aber der Rest wie “The Chemicals Between Us” oder “Jesus Online” war Durchschnitt und wirklich keine homogene Fusion aus traditionellem Rock und Elektronikelementen, wie es die Plattenfirma damals so reißerisch nannte. Bush waren für mich bis zu diesem Tag immer eine Single-Band, ganz zu Anfang ihrer Karriere assoziierte ich sie sogar in erster Linie mit dem Grunge-Sellout. Ich mag das Megaseller-Debüt “Sixteen Stone” bis heute nicht besonders, ebenso wie die zwei Jahre später so erfolgreiche, aber fürchterlich klischeehafte Single “Swallowed”. Interessant wurden Gavin und seine Kollegen Nigel Pulsford (Gitarre), Dave Parsons (Bass) sowie Robin Goodbridge (Drums) für mich erst, als ich hörte, dass sie mit Steve Albini ihre zweite Platte aufnahmen. Ich frage mich zwar bis heute, wieviel Geld dieser sonst bis aufs Blut integre Mann dafür wohl bekommen hat, aber die CD lieh ich mir trotzdem von einer Freundin. Sie hat sie bis heute nicht wiederbekommen. “Razorblade Suitcase” war ein schizophrenes Album, das durch nackte Schönheit erstmals das wahre Potenzial dieser Band zeigte. Es folgte das bereits erwähnte Interview in New York, welches bis heute eines der besten ist, die ich je geführt habe. Seit jenem Tag begleitet mich diese Band. Seitdem bringe ich regelmäßig Zeit und Interesse auf, mir Bush-Alben ganz genau anzuhören. Bush sind definitiv keine spektakuläre Band. Sie machen zähe, alles andere als modern produzierte Rockmusik, das aber wiederum unbestritten gut. Und – um nun endlich den Sprung in die Gegenwart zu schaffen – auf ihrem neuen, vierten Werk vereinen sie erstmals alle ihre Stärken und vermitteln wie selbstverständlich das Lebensgefühl, für das sämtliche halbgare Neo-Grunge-Bands von heute stehen wollen: das Verlorensein im Jetzt. “Golden State” kennt keine Füller, keine Reißbrettsingles, es kommt ohne Umwege auf den Punkt. Die anfangs gehypte Combo ist eine erwachsene, klischeefreie und ernst zu nehmende Rockband geworden. Vorbei ist die Zeit der Schizophrenie, der Seelenexkursionen, der plakativen Lyrics, der Selbstfindung. Man könnte fast meinen, Bush haben nicht nur ihre beste, sondern auch ihre erste Platte unter normalen Umständen aufgenommen. Und als wollte er diese These unterstreichen, präsentiert sich Gavin Rossdale beim Interviewtermin in einem Hamburger Hotel wesentlich ausgeglichener und ruhiger als bei unserem letzten Treffen.

Gavin, eure letzte Platte kam genau vor zwei Jahren heraus. Wie habt ihr die Zeit seitdem erlebt?

“Wir hatten phantastische Monate in Europa und sehr seltsame in Amerika. Wir headlineten dort die `MTV Campus Invasion`-Tour: Statt in New York oder Boston die großen Arenen zu füllen, spielten wir im `Third Market`, sprich nicht in Großstädten, nicht in mittleren, sondern in Vororten auf dem Campus oder kleinen Hallen.”

Warum macht man so etwas?

“Wenn MTV etwas fragt, dann tust du es. Dennoch war es eine seltsame Entscheidung unseres Managements, denn letztlich hat es uns überhaupt nicht weitergebracht. Obwohl die Shows das Beste waren, was wir seit langem erlebt haben.”

In Europa hingegen lief alles sehr gut. Unter anderem habt ihr das Hurricane-Festival geheadlined.

“Ja, Europa war echt toll. Es ist schon seltsam. Als wir letztes Mal geredet haben, ging es darum, dass Bush in Europa nie so präsent waren wie in den USA, und jetzt ist es genau andersherum.”

Nach jahrelangem Hin und Her habt ihr es auch endlich geschafft, euer Label zu wechseln.

“Ja! Wir haben `Trauma Records` verlassen und unser Management gewechselt. Seit ein paar Monaten ist endlich wieder Ruhe um uns herum. Ich hoffe, das bleibt so. Vielleicht schaffen wir es ja jetzt, die Zeit ein wenig mehr zu genießen.”

Eure neue Platte klingt zumindest so. Sie wirkt sehr ausgeglichen.

„Ist das jetzt gut oder schlecht?”

Ich denke gut. Und sie unterscheidet sich sehr von “The Science Of Things”.

“Ja, sie ist wesentlich direkter und spontaner. Ich habe die Platte schneller geschrieben, und wir haben sie auch schneller aufgenommen. Ist schon witzig, denn nach `Sixteen Stone` war das ähnlich: `Razorblade Suitcase` war der totale Schnellschuss.”

Rückblickend betrachtet fällt „Razorblade” aber ziemlich aus dem Bush-Rahmen heraus.

“Ist mir auch aufgefallen, obwohl es ja eigentlich das direkteste war, was man als Band machen kann. Steve Albini tut einfach nichts anderes, als Musik in ihrer pursten Form aufzunehmen. Für mich war das damals eine sehr emotionale Zeit. Ich war ziemlich orientierungslos und voller Weltschmerz. Eine verlorene Platte.”

Was ist dein Lieblingslied auf dem neuen Album?

(nimmt sich die CD-Hülle): “Lass’ mal sehen. Also, ich liebe `Superman`, `Reasons`, `Out Of This World` – eigentlich mag ich die meisten der Songs. Wir haben 17 Stücke aufgenommen, somit sind die richtig schlimmen schon aussortiert. Sie kommen auf B-Seiten und Soundtracks. Eigentlich ist es scheiße, so viele Lieder zu schreiben, weil du weißt, dass es einige nicht schaffen werden.”

Ihr hättet ja ein Doppelalbum machen können.

“Auf keinen Fall! Zwölf Lieder sind genug. Ich hasse lange Platten. Du machst sie an, magst sie, und nach einer Weile fragst du dich, was das für ein Geräusch im Hintergrund ist, dabei handelt es sich immer noch um dasselbe Album. Ich finde so etwas frustrierend.”

Warum ist “The People That We Love”, das zunächst “Speed Kills” hieß, die erste Single?

“Keine Ahnung. `Atlantic` hat sie ausgesucht. Ich glaube, sie mögen das Lied, weil es ein bisschen wie `Everything Zen` klingt.”

An einer Rückkehr zu alten Tugenden kann man die Promotion zu einer neuen Platte ja immer gut aufhängen.

“Eben. Ich hingegen war mir anfangs nicht einmal sicher, ob der Song aufs Album kommt.”

Ich hätte “Solutions” als erste Single gewählt.

“Ich auch. Es ist einfach der beste Weg, ein Album zu eröffnen und sich zurückzumelden. Ich finde die Bassline in dem Song großartig. Überhaupt hat Dave auf `Golden State` seine beste Leistung überhaupt abgeliefert. Aber die Auswahl von Singles ist mir zum Glück egal. Das sollen andere machen.”

Es ist auch eine Ballade auf dem Album!

(lacht) “Ja, `Inflatable`. Was für eine Überraschung!”

`Atlantic` werden wohl auch diesen Song auskoppeln.

“Ja, sie deuteten schon so etwas an.”

Bei “Letting Cables Sleep” hat dir das damals, glaube ich, nicht so gut gefallen. Das Lied hast du schließlich für einen sehr kranken Freund geschrieben.

“Es ist schon komisch, immer die persönlichsten Lieder im Radio zu hören, aber es war einfach einer der besten Songs der Platte. Außerdem mochten die Fans ihn. Robin hat mir neulich erzählt, dass, als wir das Lied letztes Jahr bei einem Festival in Ungarn spielten, das gesamte Publikum den Text mitsang.”

Worum geht es in “Inflatable”?

“Das ist nicht so einfach zu erklären. Für sämtliche Menschen, die mich umgeben, scheint es das Schwerste auf der Welt, ehrlich zu sein. So viele Bekannte zerstören ihre Beziehungen durch Misstrauen, das sie ausüben oder selbst verursachen. Ich denke, dass ein Mensch in dem Moment, in dem er vertraut, am schönsten ist. In meinen Augen blutet der Song fast vor Ehrlichkeit. Der Rest ist zu persönlich.”

“Out Of This World” ist mit seiner ruhigen, trüben Stimmung das Lied, das am meisten an “Science” erinnert.

“Ich habe `Out Of This World` geschrieben, als ich Fugazi gehört habe. Ich dachte dabei an Wasser, verschwommene Sicht, etwas Verzerrtes, Unheimliches und Schönes. `When we die, we go into the arms of those, who remember us.` Ich mag die Idee, dass ich nicht noch einmal leben muss. Das gibt mir Seelenfrieden. Die Jungs hingegen wussten anfangs gar nicht, was sie zu dem Stück machen sollen.”

Kann man sagen, dass “Science” mehr Gavin als Bush war? Einige Songs klingen im Nachhinein fast so, als hätten sie auf der Soloplatte erscheinen können, von der du mal geredet hast, wie etwa “Cables”, “40 Miles From The Sun” oder auch “The Chemicals Between Us”.

“Ich weiß, was du meinst, aber irgendwie will ich das nicht wahrhaben. Ich denke auch, man sollte das aus der anderen Perspektive sehen. `Science` war nicht mehr von mir, es war weniger von ihnen. Ich war immer die Konstante in der Band. Ich liefere die Songs und die anderen sehen, was sie damit anfangen können. Der Unterschied war dieses Mal allerdings, dass wir eine Bandplatte machen wollten, denn (beugt sich vor und flüstert) die Jungs mögen keine Maschinen. Sie haben Angst davor. Ein bisschen habe dennoch durchgeboxt, wie eben bei `Out Of This World`.”

Wo habt ihr die Platte aufgenommen?

“Wir haben in England angefangen, sind dann aber nach Los Angeles gegangen. Wir kamen zu dem Schluss, lieber da zu arbeiten, wo wir niemanden kennen.”

`Niemanden` ist wohl etwas untertrieben.

(grinst) “Gut, Gwen (Stefani, Sängerin von No Doubt und Rossdales Freundin – Anm. d. Verf.) wohnt in L.A.. In erster Linie aber wollte ich Sonne, zwischen den Aufnahmen Auto fahren und Radio hören, halt das typische amerikanische Lebensgefühl einfangen, das wir dort immer auf Tour erlebt haben.”

Daher also auch der Albumtitel, der offensichtlich an den `Golden State Freeway` angelehnt ist.

“Genau. Ursprünglich sollte die Platte `Speed Kills` heißen, aber wenn man die Möglichkeit hat, etwas einen Namen zu geben, sollte man das meiner Meinung nach auch wahrnehmen. Der `Golden State Freeway` war der Freeway zu meiner Freundin. Jede Nacht gegen ein Uhr, auf dem Weg nach Hause vom Studio, fuhr ich da lang. Eines Tages saß ich mit Gwen im Auto, fuhr diese Strecke und es schoss mir durch den Kopf: `Golden State! Cool! Das ist es.`”

Der Name kann ja auch einen Gemütszustand beschreiben.

“Eben. Ich denke, diese Platte ist unsere positivste, obwohl immer noch sehr viel Spannung da ist. Selbst wenn das erste Lied `Solutions` heißt – es werden keine Lösungen geboten, es wird danach verlangt. Vieles dreht sich um Sehnsucht, Fernweh und Heimweh; die Gefühle, die Rockmusik seit jeher interessant machen.”

Wo lebst du zur Zeit?

“In London und L.A.. Ich bin, wo immer Gwen ist und sie, wo immer ich bin. Wir wollen mehr Zeit miteinander verbringen.”

Ich habe mal in einer englischen Boulevardzeitung gelesen, dass du geheiratet hast.

“Das ist ein beschissenes Gerücht. Bei einer Awardshow in England fragte mich ein Journalist, ob ich Gwen heiraten würde. Ich sagte: `Klar werde ich das!` Ich meine, was hätte ich tun sollen? Ich werde doch nicht öffentlich sagen, dass ich die Frau, mit der ich zusammen bin, nie heiraten werde. Er fragte dann, für wann die Hochzeit geplant ist. Ich sagte: `Keine Ahnung.` Boom! Da war die Überschrift. Es ist zum Kotzen. Ich hätte nichts sagen sollen.”

Du magst das Thema nicht besonders, oder?

“Sagen wir so: Es sollte mir egal sein. Was soll ich auch anderes tun? Dem Typen eine aufs Maul hauen, weil er so dreist ist? Dann hätte ich echt ein Problem.”

Was ist das englische Element an Bush?

“Mein Akzent vielleicht? Keine Ahnung. Was meinst du?”

Ich frage mich das auch. Mir geht es zwar auf die Nerven, zu sagen, dass Bush die amerikanischte aller englischen Bands ist, aber irgend etwas muss ja dran sein.

(überlegt) „Vielleicht die Perspektive meiner Texte?”

Da ist was dran. Eigentlich macht ihr amerikanische Musik mit bodenständigen Texten.

“Schon möglich, dass uns das charakterisiert. Ich mag nicht, wie Amerikaner sich immer selbst abfeiern. Die Art, wie die dort momentan hippen Bands Probleme und Gefühle angehen, gefällt mir gar nicht. Mir ist das größtenteils viel zu eindimensional.”

Aber sie liegen damit im Trend. Mit einer straighten Rockplatte wie dieser sind Bush nicht gerade die hippste Band auf diesem Planeten. Hast du jemals darüber nachgedacht, was passiert, wenn sich keiner mehr eure Platten kauft?

“Klar, aber aus einer anderen Perspektive. Ich weiß nämlich nicht, ob es überhaupt gut ist, sein Leben lang unterwegs zu sein und nie irgendwo anzukommen. Aber es macht einfach so verdammt viel Spaß. Ich komme mir inzwischen vor wie bei einem Tanzwettbewerb – ich glaube, ich werde einfach so lange so gut wie möglich tanzen, bis mir jemand auf die Schulter tippt.”

Auf deinem Unterarm hast du neuerdings die Buchstaben “W-i-n-s-t-o-n” tätowiert. Ist das nicht der Name deines Hundes?

“Ja. Ich habe sie mir vor vier Monaten in L.A. machen lassen.”

Du scheinst diesen Hund wirklich sehr zu mögen.

“Winston ist der Beste auf der Welt. Ich wollte ihn auch mit auf diesen Interviewtrip bringen, habe ihm sogar einen Reisepass besorgt, aber der Zoll hat es nicht erlaubt. Das ist doch völlig zurückgeblieben! Das hasse ich an England! In Amerika kommst du in einen Laden und die Leute fragen freundlich: `How can I help you?` In England betrete ich hingegen in einen leeren Coffeshop, in dem sich drei Angestellte hinter dem Tresen unterhalten und fühle mich schuldig, wenn ich sie anspreche. Aber England ist mein Zuhause. Wenn ich weg bin, vermisse ich die rüden Umgangsformen regelrecht. Und auf die Tour im Dezember nehme ich Winston definitiv mit.”

Das Interview fand am 29. August statt. Das eigentliche Albumcover für “Golden State” hatte Gavin erst am Vorabend abgesegnet: ein verschwommen zu erkennendes Flugzeug vor einem beigefarbenen Hintergrund. In Anbetracht der politischen Lage, des Bandnamens und des Albumtitels wurde das Motiv kurzfristig geändert. “Alles macht mir Angst. Ich kann diese Welt nicht begreifen, die Kriege, die wir führen, die Leute, die sich gegenseitig wie Dreck behandeln. Die Welt ist in einer schlechten Verfassung und Gott versucht, das Problem zu lösen. Durch Naturkatastrophen, Kriege und Krankheiten. Unsere Songs sind meine Reflexion der Eindrücke, die mir diese kaputte Welt jeden Tag bietet.” Das sagte Gavin bei unserem letzten Interview vor zwei Jahren in New York. “Out Of This World” war das erste Lied, das ich nach dem 11. September wieder hören konnte: ruhig, aber mit einer seltsamen Grundatmosphäre, so dass der eigentlich schöne Text in diesem Kontext eher verstört. Die Stimme klingt dumpf, wie durch eine geschlossene Fensterscheibe gesungen: “Are you drowning or waving? I just want you to save me. Should we try to get along? We change by the speed of the choices that we make. And the barriers are all self made.” Bush vertonen eine Mischung aus Trauer, Wut, Unverständnis, Verzweiflung, Hoffnung und den immer noch bestehenden Glauben ans Gute. Eben alles, was eine Generation prägt. Dabei drücken sie auf eine angenehm bodenständige Art und Weise das aus, was Worte allein nicht können. Was auch immer das ist. Dafür mag ich sie. Jetzt weiß ich es.